Couchgespräch bei VISION KINO
Wie können wir als Institution der Filmbildung mit Filmen umgehen, die rassistische oder antisemitische Bilder und Narrative reproduzieren? Unter welchen Umständen arbeiten wir (nicht mehr) mit ihnen? Und wie sind wir selbst aufgestellt, Diskriminierung im Film zu erkennen und verantwortungsvoll damit umzugehen? Diese Fragen haben sich Mitarbeitende von Film Macht Mut im Gespräch mit Kolleg*innen von VISION KINO gestellt.
Es sprechen:
- Gabriele Blome (Leitung Kindertiger, Leitung Digitale Filmbildung)
- Sabine Genz (Leitung Publikationen, Leitung Film Macht Mut, Leitung Kongress, EU-Kooperation)
- Leopold Grün (Geschäftsführer)
- Pola Hahn (Koordination Film Macht Mut)
- Amelie Hartung (Koordination SchulKinoWochen)
- Michael Jahn (Leitung SchulKinoWochen) [später dazu gestoßen]
- Farnaz Sassanzadeh (Koordination Film Macht Mut)
- Roman Woopen (Koordination Film Macht Mut)
Hinweis: Das Gespräch ist eine Momentaufnahme von Dezember 2022, bevor die diskriminierungskritische Organisationsentwicklung startete, und repräsentiert nicht mehr den aktuellen Stand des Teams.
Ausgangspunkt
Roman: Wir sprechen heute über die diskriminierungskritische Arbeit mit Filmen bei Film Macht Mut und VISION KINO. Lasst uns das vorher rahmen: was ist der Ausgangspunkt dieser Arbeit? Wo begegnen euch Rassismus und Antisemitismus in der Arbeit?
Sabine: Natürlich bei Filmen. Wir schauen uns alle Kinder- und Jugendfilme mit deutschem Kinostart an. Da ist viel Rassismus dabei. Dann sprechen wir im Team darüber. Bei manchen Kinderfilmen hatten wir die Fälle, in denen rassistische Stereotype „lustig“ gemeint waren, „lustig“ in Anführungsstrichen [Anm. der Redaktion: z. B. wenn Rassismus auf spöttische Weise reproduziert wird, wie in einigen Culture Clash Komödien]. Innerhalb des mehrheitlich weißen Teams gibt es dann eben auch noch unterschiedliche Auffassungen darüber, ob das jetzt rassistisch ist oder nicht. Vorher haben wir natürlich auch immer gesagt, wir empfehlen keine Filme, die rassistische Klischees verbreiten, aber wir hätten vielleicht manches gar nicht so genau wahrgenommen. Jetzt erkennen wir auch subtilere Rassismen. „Winnetous Sohn“ würden wir jetzt nicht mehr empfehlen, haben wir aber vor ein paar Jahren noch. Wir sind kritischer geworden, etwa durch das Interkulturelle Filmbildung Projekt und jetzt Film Macht Mut.
Gabi: Ich glaube, es gab schon immer ganz viel guten Willen, aber wir haben uns immer innerhalb der gleichen [Anm. der Redaktion: weißen, nicht-jüdischen, und in weiteren Positionierungen privilegierten] Blase ausgetauscht. Dadurch sind wir gar nicht so weit gekommen, subtilere Diskriminierungen überhaupt zu verstehen. Erst wenn man in diversen Teams zusammenarbeitet, passiert nochmal deutlich mehr Auseinandersetzung mit Diskriminierung.
Roman: Zum Start von Film Macht Mut haben wir erst einmal überall diese weiß, nicht-jüdisch zentrierten Räume bei VISION KINO und den Partner*innen gesehen. Da wurde noch nicht Rassismus- und Antisemitismuskritik als wichtiges Werkzeug und Praxis anerkannt, wofür es auch Wissen und Erfahrung braucht.
Leopold: Ja, wo es zwar viele Lippenbekenntnisse gibt und trotzdem in den eigenen Kreisen gar keine Bewegung stattfindet. Diese immer noch relativ hermetischen Räume finde ich auch das Auffälligste. Das ist jetzt meiner Ansicht nach noch kein offener Rassismus, sondern das sind sozusagen Bedingungen, unter denen sich in irgendeiner Form im Denken und im Handeln etwas ändern könnte. Das gilt für einen selbst, für unser Umfeld, für mein Umfeld und es gilt für die Institutionen, mit denen wir zusammenarbeiten genauso. [Anm. der Redaktion: diese hermetischen Räume versteht FMM durchaus als offen rassistisch. Wer hat hier wen ausgewählt und wen ausgegrenzt?]
Farnaz: Ehrliche Antwort? Ich begegne Rassismus ab dem Moment, in dem ich meine Arbeit beginne. Wie ich als betroffene Person wahrgenommen werde, wie viel ich mich erklären muss, ob ich für glaubwürdig gehalten werde.
Sensibilisierung
Roman: Danke fürs Teilen. Sabine und Gabi haben es schon gesagt. Wollt ihr anderen ergänzen, was euch bisher geholfen hat, noch aufmerksamer in puncto Diskriminierungskritik zu werden?
Farnaz: Jedes Gespräch im Team! Die ganze Prozessbegleitung, die vielen Workshops, die wir machen, auch unter BIPoC Kolleg*innen – das hilft total bei der Sensibilisierung. Auch die Begegnungen mit den vielen diskriminierungskritischen Institutionen und Menschen, mit denen wir bei Film Macht Mut zusammenarbeiten.
Amelie: Wenn wir Filme sichten, denken wir jetzt auch an eine diverse Klasse als Rezipient*innen. Das ist ein Perspektivwechsel und hilft zu reflektieren und verändern, was wir zeigen und veranstalten. Bei den Schulkinowochen haben wir Jim Knopf jetzt aus dem Programm genommen. Das ist dann auch gar nicht so leicht, den Projektbüros der SchulKinoWochen zu vermitteln, warum der Film, der eigentlich so viele Zuschauer*innen bringen würde, nicht mehr dabei ist. Da war auf jeden Fall hilfreich, dass wir intern die Fortbildung hatten „Vom Stummfilm zu Jim Knopf: Mit Filmen Rassismus sehen lernen“.
Mit wem diskriminierende Filme besprechen, mit wem eher nicht?
Leopold: Ich überlege immer noch, wie man damit umgeht, dass man die Filme nicht versteckt, sondern dass man mit ihnen arbeitet, um über Diskriminierung zu sprechen. Dass die Sachen nicht so unter dem Radar verschwinden, sondern dass man immer wieder darüber sprechen kann.
Gabi: Da ist die Frage interessant: mit wem sprichst du darüber? Zeigst du das in Schulklassen, wo vielleicht Kinder verletzt werden können? Oder spricht man mit den Beteiligten der Initiative besonderer Kinderfilm oder der fbw- Jugend Filmjury? Der beste Weg wäre, zu versuchen, dass solche Filme gar nicht mehr entstehen, weil vielleicht im Entstehungsprozess schon eine Organisation wie das Kollektiv Dis-Check beauftragt wird, mal das Drehbuch gegenzulesen.
Leopold: Ja, absolut. Dann sprichst du mal mit dem Produzenten, dem Verleiher, alle, die ja auch meinen, sich für das Richtige einzusetzen. Ich denke: Es ist ja nicht so, dass das Leute sind, die mit einem rassistischen oder antisemitischen Weltbild durch die Gegend laufen, sondern sie wollen ja diskriminierungskritisch sein.
Pola: Das ist das große Strukturelle um uns herum, das auch verändert werden muss. Und um dann Filme kritisch zu besprechen, muss es aber auch die Leute geben, die das können.
Diskriminierungskritisches Sichten
Roman: Gibt es diese Kompetenz schon? Was passiert bisher für ein diskriminierungskritisches Sichten? Welche Leerstellen gibt es?
Amelie: Es fängt glaube ich bei Moderator*innen bei den Filmgesprächen an, wer steht da vorne und macht das Filmgespräch? Da hätten wir auf jeden Fall Bedarf mehr diskriminierungserfahrene Menschen zu engagieren, um diese Perspektiven einzubringen. Es wäre auch gut, wenn diversere Autor*innen für VISION KINO über die Filme schreiben würden.
Sabine: Wir haben schon manchmal Filme, die z.B. Themen rund um Migration behandeln, für die Sichtung an Autor*innen mit Einwanderungsgeschichte gegeben. Aber ich fände es eben auch wichtig, dass sie einfach im generellen Autor*innen-Pool sind und über alle Filme schreiben und dann nicht immer nur die Filme mit den speziellen Themen zugeteilt bekommen.
Roman: … und vielleicht können auch alle im Autor*innenpool, die keine diskriminierungskritische Perspektive mitbringen, darin weitergebildet werden.
Farnaz: Bei Film Macht Mut haben wir diskriminierungskritische Leute, Festivals und Institutionen für die Vor-Recherche der Filme angefragt. Dann wurden die 140 Kurzfilme kritisch gesichtet. Für die Auswahl von 27 Kurzfilmen haben wir nochmal eine Filmjury gebildet, die auch aus diversen Personen mit unterschiedlichen Expertisen in Bezug auf Rassismus und Antisemitismus zusammengesetzt war. Nachdem wir mit der Filmjury noch einmal diskutiert haben, gab es den finalen Pool, mit dem dann die Pädagoginnen, die die Workshops geschrieben haben, gearbeitet haben.
Pola: Als Leitlinie hat uns ganz gut geholfen: wenn man sich nicht wirklich sicher ist, dann kommt der Film nicht dazu. Wenn man so lange diskutiert und zwischendurch Bauchschmerzen hat, sollte man sich lieber auf die Filme konzentrieren, bei denen man sich sicher ist und ein gutes Gefühl hat. Wo es unterschiedliche Meinungen gibt, einfach noch weitere Stimmen einholen.
Im Zweifel: aus dem Programm?
Roman: Könnt ihr ein Beispiel nennen, wo wir ein ungutes Bauchgefühl bei FMM hatten und wie wir damit umgegangen sind?
Farnaz: Klar. Wir haben uns mit der Filmjury auf einen bestimmten Film geeinigt, weil wir dachten, dass er pädagogisch begleitet funktioniert, obwohl wir alle auch ein bisschen skeptisch waren. Aber dann haben wir aus unserem Team der Landeskoordinationen auch kritische Meinungen gehört und den Film noch einmal kritisch sichten lassen. Daraufhin haben wir ihn aus dem Programm genommen. Jetzt bieten wir für die erste und zweite Klasse zwei Module weniger an. Da haben wir auch wieder Einiges gelernt.
Roman: Wären solche kritischen Auswahl- und Sichtungsprozesse wie bei FMM auch für andere Projekte und Angebote der VISION KINO möglich?
Micha: Grundsätzlich haben wir bei den SchulKinoWochen und auch bei den FilmTipps die Problematik, dass wir mit viel mehr Output als ihr arbeiten. Wir haben jeden Monat bis zu zwölf neue Filme. Dann gibt es jeden Monat sechs neue Filme mit Unterrichtsmaterialien, das heißt, wir haben jedes Jahr im Pool für die Schulkinowochen 80 neue Anwärter*innen. Wir könnten alternativ sagen, wir halten uns extrem zurück und beschäftigen uns mit den Filmen, die wir empfehlen, viel, viel intensiver und gucken noch mit mehreren Perspektiven drauf.
Sabine: Genau, wir können uns nicht so viel Zeit nehmen. Die Deadlines sind jetzt schon dramatisch. Es geht nicht, einen Film, der im April im Kino startet, erst im August zu empfehlen, weil er dann gar nicht mehr im Kino läuft. Also die Filme, die im April starten, müssen im April als Filmtipps rauskommen und laufen dann im Oktober schon bei den SchulKinoWochen. Und manchmal starten auch 17 Filme in nur einer Woche.
Leopold: Die Filmredaktionsgruppe müsste eigentlich durch eine diskriminierungskritische Kraft erweitert werden.
Diskriminierungskritische Filmkriterien und Regularien einführen
Roman: Das klingt so, als gäbe es schon nächste definierte Schritte. Wenn euch jetzt in eurem Projekt ein Film begegnet, der Rassismus oder Antisemitismus reproduziert, wie geht ihr damit aktuell um? Welche verschiedenen Handlungsspielräume habt ihr in euren Projekten?
Gabi: Bei der Nominierung von Drehbüchern für den Kindertiger war auch ein Film dabei, zu dem VISION KINO in dieser Hinsicht kritische Position bezogen hatte. Wir wollten aber auf keinen Fall gegen die Nominierung durch die Jugendlichen einschreiten. Der Film erfüllte schließlich die administrativen Regularien mit FSK und Kinostart. Jetzt könnte man höchstens mit der FFA überlegen, ob wir für den Kindertiger die Regularien ergänzen: wenn jetzt ein Buch eingereicht wird, das Rassismus oder andere Diskriminierung reproduziert, dass wir uns dann erlauben einzuschreiten und dieses Buch nicht zulassen.
Micha: Bei den SchulKinoWochen haben wir, wie bereits erwähnt, Jim Knopf aus dem Programm genommen. Die Lehrkräfte und Kinos, die den Film schauen wollen, verweisen wir in dem Zusammenhang auf die Fortbildung von Aida Ben-Achour, die VISION KINO auch intern besucht hat. Aber wir müssen feststellen, dass wir auch andere Kinderfilme im Programm haben, die diskriminierende Stereotype reproduzieren. Wir werden uns das Filmrepertoire der SchulKinoWochen daher nochmal genauer anschauen müssen und sicher auch weitere Filme aus dem Programm nehmen.
Gabi: Das finde ich eigentlich auch eine spannende Frage. Also dieser diskriminierungskritische Blick, der ist wichtig. Gleichzeitig gibt es den Blick von Filmpädagog*innen, die sagen, ob sie einen Film geeignet finden. Da muss man noch Kriterien entwickeln und gucken, wie wir die gewichten. Wo sagen wir, dass eine Szene im Film gar nicht geht, aber zeigen den Film trotzdem? Mit solchen Szenarien würde ich mich gerne beschäftigen.
Leopold: Ich würde es auf die Spitze treiben: Filme haben ja auch eine Qualität, wenn sie ambivalent erzählt sind, also wenn sie eine Fragestellung aufwerfen. Wenn du nicht sofort weißt, aus welcher Perspektive die Filmemacher*innen agieren, bin ich als Zuschauer*in aufgefordert, mich selbst zu bewegen und eine Haltung zu entwickeln. Das würde VISION KINO auch als ein qualitatives Merkmal eines guten Films betrachten.
Leopold: Tauchen diese Kriterien dann in der rassismuskritischen und antisemitismuskritischen Filmbetrachtung auch noch auf oder müssen da die Filme alles richtig machen? Müssen die Filme sozusagen aus der Perspektive dieser Frage eindeutig sein? Und nicht zweifelhaft? Und wo geht sozusagen Filmkritik und Diskriminierungskritik zusammen?
Pola: Klar geht das zusammen. Da stellt sich nur wieder die Frage der Zielgruppe. Mit älteren Kindern kannst du auch ambivalentere Filme besprechen und einen kritischen Blick darauf fördern. Der Film soll aber auch niemanden verletzen, diskriminieren oder retraumatisieren. Und es ist wichtig, bestimmte Filme nicht unbegleitet zu zeigen, sondern mit anschließender pädagogischer Begleitung und Diskussion und Hintergrundwissen. Ich fände es auch sehr spannend, mehrere Gutachten zu einem Film zu haben, die nebeneinander stehen, um nicht nur einstimmige Empfehlungen zu geben.