Filmbildung ohne Filme? Antisemitismuskritische Filmbildung für Kinder
Für eine antisemitismuskritische Filmbildung für Kinder braucht es sehr viel mehr, vielfältigere und nicht-normative Filme. Wo die Leerstellen liegen und wie ihnen begegnet werden könnte, analysiert Tirza Seene, Doktorandin zu Antisemitismus und Film an der Filmuniversität KONRAD WOLF.
Die ‚Dokumentarisierung Jüdischen Lebens‘ – eine deutsche Lücke
2023 häufen sich die Social Media Posts von Juden_Jüdinnen zu dem Film You are so not invited to my Bat Mitzvah.[1] Die von Adam Sandler verfilmte Netflix Produktion sei nicht nur ein Highlight für filmbegeisterte Juden_Jüdinnen, sondern eine besonders gelungene Repräsentation vielfältigen jüdischen Lebens. In der Teenie-Komödie planen die zwei Freundinnen Stacy und Lydia ihre großen Bat Mizwa Feiern. Dass der Film diese Begeisterung hervorrief, hat unter anderem mit der Leichtigkeit zu tun, mit der er seine Handlung in einer jüdischen Umgebung inszeniert. Er schafft es dabei auch genretypische Charaktere ins US-Amerikanische jüdische Milieu zu übersetzen, wie die aufgeweckte, etwas schrullige Rabbinerin Rebecca und die Slapstick-Figur DJ Shmuley.
In deutschen Kinder- und Jugendfilmen gestaltet sich die Suche nach ähnlichen Filmhighlights schwierig. Die Leichtigkeit der Inszenierung, die Vielfalt jüdischer Figuren und fiktionale Erzählungen mit Juden_Jüdinnen fehlen hierzulande. Die große Mehrzahl der Produktionen für Kinder und Jugendliche, die sich mit jüdischer Erfahrung in Deutschland befasst, ist dokumentarisch. Nicht nur im Rahmen des Projekts Film Macht Mut gestaltete sich die Recherche nach fiktionalen Filmen schwierig, auch der Bildungsbereich des Jüdischen Filmfestival Berlin Brandenburg klagt über diese Leerstelle. Wie lässt sich diese Präferenz für das Dokumentarische und das Fehlen fiktionaler Formate erklären? Was bedeutet dieser Fokus für antisemitismuskritische Filmbildung und die Repräsentation jüdischer Erfahrung? Denn so fruchtbar die Arbeit mit dokumentarischen Formaten ist, stellt diese Leerstelle Filmbildner*innen und Lehrer*innen vor verschiedene Herausforderungen.
[1] Vgl. Instagram Post „Warum ‚Du bist sowas von nicht eingeladen auf meine Bat Mitzvah‘, der Film über jüdisches Leben ist, auf den wir alle gewartet haben“ von @oy_jewish_mamma vom 23. September 2023. URL: https://www.instagram.com/oy_jewish_mamma?utm_source=ig_web_button_share_sheet&igsh=ZDNlZDc0MzIxNw== (Zugriff: 17.01.2024).
Dokumentarfilm, Kinderfilmbildung und Antisemitismus
Die dokumentarische Form wird oft gewählt, um jüdisches Leben zu zeigen und sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen, da sie verschiedene Facetten der Wirklichkeit und vielfältige Lebensrealitäten für Kinder erklärbar und erfahrbar macht. Dies geschieht meist über die Dokumentarfilmer*innen und Moderator*innen, die als Gatekeeper*innen fungieren. Sie ermöglichen den zuschauenden Kindern einen Einblick in eine Community, Hausgemeinschaft oder persönliche Erfahrung. Diese Gatekeeper*innen können reale Moderator*innen und filmische Figuren gleichzeitig sein. Zum Beispiel wird Checker Tobi zu einer Figur, die die Vermittlungsfunktion zwischen Kind und Erwachsenen übernimmt, und Tobi ist eine reale Persönlichkeit. Als Erwachsener erklärt er und übersetzt das Gesehene in die Sprache der zuschauenden Kinder. Gleichzeitig spielt er mit den Kindern im Film, übernachtet sogar in ihrem Zimmer.
Wenngleich Spiel- und Dokumentarfilme unterschiedlich funktionieren, sind sie beide inszeniert und in der Montage so zusammengesetzt, dass sie einer bestimmten Dramaturgie folgen. Um Dokumentarfilme zu analysieren, müssen wir zunächst verstehen und vermitteln, dass sie weniger ein Abbild der Realität darstellen, sondern vielmehr ein Deutungsangebot machen. Durch ihren Aufbau und ihre Erzählweise evozieren sie, so beschreibt es der Medienwissenschaftler Roger Odin, den „dokumentarisierenden Modus“[1]: Dabei werde das Dokumentarische auf der diskursiven Ebene als Informationsvermittlung wahrgenommen, als „Modus der Erfahrung der Wirklichkeit“.[2] Dokumentarfilme können also nicht nur als filmische Gattung, sondern vielmehr auch als spezifische Seherfahrung verstanden werden. Die Konstruiertheit von Filmen allgemein und besonders von Dokumentationen zu vermitteln ist der erste Schritt einer gelungenen Filmbildung. Dies bietet auch Vorteile für die antisemitismuskritische Filmbildung, so Roman Woopen von Film Macht Mut, da das Wissen über die Gemachtheit und die Emotionalisierung eines Films dafür sensibilisiere, stereotype, dämonisierende und weitere antisemitische Erzählungen als solche zu erkennen und zu hinterfragen.
Ein weiterer Grund für die große Beliebtheit von Dokumentationen über jüdische Erfahrung und Antisemitismus ist, dass sie die Betroffenen zu Wort kommen lassen und ihre Erlebnisse in den Vordergrund rücken. So zeigen sie, dass Antisemitismus auch aktuelles gesellschaftliches Problem ist, welches sich nicht nur in der Vergangenheit verorten lässt. Jedoch müssen wir uns auch die Frage stellen, was diese ‚Dokumentarisierung jüdischen Lebens‘ für Fragen der Repräsentation bedeutet und wie wir damit arbeiten können.
[1] Roger Odin u. a.: Kommunikationsräume. Einführung in die Semiopragmatik. O. O.: MediArXiv 2019, S. 80. DOI: doi.org/10.33767/osf.io/6z974 (Stand: 17.11.2021).
[2] Ebd.
Exotisierung und mangelnde Diversität
Viele Filmbeispiele zeigen jüdisches Gemeindeleben, Interviews mit Rabbinern und begleiten jüdische Kinder und ihre Familien im Alltag. Dabei kommen Filmteams und Produzent*innen jedoch oft mit einem ganz klaren Bild davon, wie dieser Alltag aussehen soll. „Wenn Journalist*innen und Filmteams zu mir nach Hause kommen und eben den Alltag mitbekommen, werde ich oft gefragt, ob da auch noch ‚etwas Jüdisches‘ dabei sei“, erzählt die jüdische Instagram-Aktivistin Tanya Raab. „Die Leute wollen nicht wirklich meinen Alltag sehen, sondern etwas auf mich projizieren. Daher wurde ich schon oft für Filmaufnahmen an vermeintlich ‚jüdische Orte‘ wie den jüdischen Friedhof gebeten.“ Das bekannte Bildrepertoire wird aktiv eingefordert: rituelle Frömmigkeit, Synagoge und Friedhof. Dabei verbleibt das Gezeigte vielfach bei dem Einblick in eine ‚fremde Welt‘ und birgt so Gefahren der Exotisierung.
Juden_ Jüdinnen werden in den meisten Fällen als vordergründig religiöse Gemeinschaft dargestellt. Auch in den Film Macht Mut Filmbeispielen stehen religiöse Familien im Vordergrund. Und obwohl die logo! Extra Moderatorin Maral gelungen auf die Vielfältigkeit und Diversität jüdischen Lebens aufmerksam macht, ist es auffällig, dass koschere Speisegesetze, jüdische Rituale und religiöse Institutionen den Mittelpunkt des jüdischen Familienlebens ihrer Protagonist*innen bilden. Auch hier weist das Film Macht Mut Modul Jüdisches Leben darauf hin, dass nicht alle Juden_Jüdinnen religiös sind. Und weiterhin müssen wir die Fragen stellen: Wer wird gezeigt? Wie wird Jewishness dabei erzählt, geht es vorrangig um Religiosität oder spielen beispielsweise auch Migrationserfahrungen oder Queerness als Momente von Jewishness eine Rolle? Welche und wie viele Figuren/ Protagonist*innen tauchen auf, sind sie sympathisch und haben sie Handlungsmacht und Deutungshoheit (agency)? Werden auch Vielfalt oder Neuinterpretationen des Glaubens gezeigt oder ausschließlich traditionelles jüdisches Leben? Auch Tanya Raab sieht dieses Problem im deutschen Film: „Gerade Filme sollten den Anspruch haben Vielfalt darzustellen. Wir bekommen jedoch meist Bilder streng religiöser oder konservativer jüdischer Familien zu sehen. Jüdische Frauen mit Kippa und queere Familien sind immer noch unterrepräsentiert.“ Für die Filmbildung bedeutet das eine gewisse Einseitigkeit und Redundanz.
In den Film Macht Mut Materialien wird darauf hingewiesen, dass Checker Tobi sogar exkludierend von ‚wir‘ spricht und dabei eine christliche Mehrheitsgesellschaft meint. Judith Coffey und Vivien Laumann haben diese gesellschaftliche Struktur als Gojnormativität [von goy, nicht-jüdisch] bezeichnet, durch deren Mechanismen Juden_Jüdinnen in einer konstruierten nicht-jüdischen Norm „unsichtbar gemacht, (bewusst oder unbewusst) ausgeschlossen oder in eine ganz bestimmte, vorgegebene Rolle gedrängt werden.“[1] In einigen dokumentarischen Formen für Kinder werden gojnormative Geschichten von Juden_Jüdinnen erzählt.
Bis es andere gibt, bleibt die Herausforderung, die vorliegenden Filme mit Kindern und Jugendlichen kritisch einzuordnen, was der besonders jungen Zielgruppe von Film Macht Mut schwerfallen kann. Einerseits fehlt häufig das Verständnis für die Gemachtheit eines Dokumentarfilms, andererseits das Wissen über die Vielfalt jüdischen Lebens. Statt jüdische Vielfalt mit dem Film zeigen zu können, muss das bisher ergänzend zum Film geschehen.
[1] Judith Coffey, Vivien Laumann: Gojnormativität: Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen. Erste Auflage, Berlin: Verbrecher Verlag 2021, S. 19.
‚Korrekte‘ Bilder von Juden_Jüdinnen gegen Antisemitismus?
Ist also vielfältige Repräsentation der Garant für gelungene antisemitismuskritische Filmbildung? Die Idee antisemitische durch ‚korrekte‘ Filmbilder zu ersetzen, lässt sich in Analogie mit Begegnungsprojekten aus der politischen Bildung setzen. Diese Projekte gehen davon aus, dass in der Begegnung mit einer jüdischen Person manifeste Vorurteile und impliziten Klischees abgebaut werden. Lea Wohl von Haselberg und ich haben die These formuliert, dass diese Strategie jedoch für den Film zu kurz greift, wenn Antisemitismus nicht nur als Ressentiment gegenüber realen Personen, sondern auch als subtile Struktur in Bild und Narrativen dekonstruiert werden soll.[1] Denn sie folgt einem vereinfachten Antisemitismusverständnis. Shulamit Volkov hat Antisemitismus hingegen als „kulturellen Code“ beschrieben.[2] Am Beispiel der wilhelminischen Gesellschaft beschreibt sie ihn als dynamisches Weltdeutungsmodell, das bestimmte Funktionen für eine Gesellschaft erfüllt, zum Beispiel die Reduktion einer komplexen Weltsituation auf einen Sündenbock oder der Aufbau eines Feindbildes gegenüber einer Wir-Gruppe. Um dieses Weltdeutungsmodell zu dekonstruieren, reiche es nicht Begegnungen zu fördern und antisemitische Bilder von Juden_ Jüdinnen durch ‚korrekte‘ Gegenbilder zu ersetzen, denn dadurch wird der Antisemitismus in seiner spezifischen Funktionsweise vereinfacht (vgl. Seene/Wohl von Haselberg). Verschwörungserzählungen lassen sich nicht mit der filmischen Erzählung jüdischer Protagonist*innen auflösen, ebenso wenig die Leugnung oder Relativierung der Shoah oder eine dämonische, antisemitische Verzerrung eines Bankers. Dokumentarische Formen können sich leicht in diese Logik der ‚korrekten‘ bzw. korrigierenden Gegenbilder einfügen. Einerseits wird oft ausgeblendet, dass auch sie auf problematischen Vorannahmen beruhen oder in ihrem Duktus exotisieren können.
Wie könnten sich Dokumentationen also von diesen exotisierenden und gojnormativen Narrativen verabschieden? Wichtig wäre sich im Vorfeld die Frage zu stellen, welche Projektionen auf Juden_Jüdinnen es im Filmteam und gesellschaftlich gibt und welchen entgegnet werden sollten. Die eigene Positionierung sollte dabei immer wieder reflektiert werden. Sich auf die breit gefächerte Persönlichkeit der Protagonist*innen einzulassen und sie in der Frage ihrer Repräsentation zu beteiligen, könnte ein diskriminierungskritischer Schritt sein.
[1] Workshop: Künstlerische Alternativen zum antiziganistischen Blick, Forschungsstelle Antiziganismus, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 01.11.2021 - 02.11.2021 digital (Heidelberg). URL: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127792 (Letzter Aufruf: 21.12.2023)
[2] Vgl. Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code: zehn Essays. 2., durch ein Reg. erw. Aufl., München: Beck 2000 (= Beck’sche Reihe 1349).
Fazit
Jüdische Erfahrung wird in deutschen Produktionen primär im Dokumentarischen vermittelt. Filme wie You are so not invited to my Bat Mitzvah, die Kinder- und Jugendthemen mit jewish moments oder Juden_Jüdinnen als Protagonist*innen inszenieren, gibt es wenige. Diese Art von Filmen ist so erfrischend, weil sie im Gegensatz zu den Dokumentationen nicht der vorherrschenden Annahme folgen, dass jüdische Erfahrung im Film nicht ohne Erklärung und Einordnung auskommt. Obwohl im politischen und gesellschaftlichen Diskurs immer noch vielfach auf die Formel ‚Jüdisches Leben in Deutschland ist wieder normal‘ zurückgegriffen wird, läuft die Beobachtung dieser ‚Dokumentarisierung jüdischen Lebens‘ dieser These zuwider: Normal ist das Gojnormative, der Rest muss erklärt werden. Und trotz des offensichtlichen Vorteils des Dokumentarischen, verschiedene Lebensmodelle erklärbar und erfahrbar zu machen, folgen auch Dokumentarfilme oft exotisierenden Narrativen und begünstigen dadurch ein Othering.
Für die antisemitismuskritische Filmbildung lässt sich also zunächst festhalten, dass ein Mangel an weiteren Filmen herrscht. Dies liegt auch daran, dass es weiterhin Berührungsängste mit dem Thema Antisemitismus gibt. Filmemacher*innen scheitern nicht erst bei der Frage, wie das Thema kindgerecht aufgearbeitet werden kann, sondern bereits bei dem Wissen über Antisemitismus selbst. Dieser kann nicht nur durch vermeintlich ‚korrekte‘ Gegenbilder dekonstruiert werden, sondern muss vielmehr in seiner Konstruiertheit und Dynamik als filmische und sowie gesellschaftliche Struktur verstanden werden. Mit etwas älteren Kindern und Jugendlichen können so auch Filme antisemitismuskritisch besprochen werden, die vermeintlich „ohne Juden_Jüdinnen“ auskommen, aber doch Antisemitismus als kulturellen Code vertiefen. Zum Beispiel anhand von bestimmten Figurentypen wie ‚dem Bösen‘ oder exkludierenden Figurenkonstellationen wie ‚den Außenseitern‘, deren Ausgrenzung oder Vernichtung die Erlösung der Gemeinschaft bringt. Mit jüngeren Kindern kann eine Kritik an Ausgrenzung und eine Kultur des Zusammenhalts geübt werden. Schließlich beginnt antisemitismuskritische Filmbildung auch bei uns als Gesellschaft selbst – mit welchen Projektionen sind wir aufgewachsen, welche (unbewussten) Stereotype wurden übernommen? Dies auch in der eigenen Arbeit immer wieder aufs Neue zu reflektieren ist der erste Schritt gelungener antisemitismuskritischer Filmbildung.
Autorin
Tirza Seene, geb. 1992, hat ihren B.A. Abschluss in Empirischer Kulturwissenschaft und Judaistik in Tübingen erworben. 2020 hat sie ihr Masterstudium Judaism in Historical Context: Modern Judaism and Holocaust Studies an der Freien Universität Berlin und dem Touro College Berlin abgeschlossen, welches sich durch die Kombination aus historischer Holocaustforschung und Jüdischen Studien auszeichnet. Während dem Master hat sie sich schwerpunktmäßig mit antisemitischen Darstellungsweisen im Film beschäftigt und einen Auslandsaufenthalt an der Tel Aviv University absolviert. Seit Oktober 2020 promoviert sie als akademische Mitarbeiterin bei der Nachwuchsforschungsgruppe »Was ist jüdischer Film?« an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF zu dem Themenkomplex Antisemitismus und Film.
Für Film Macht Mut führt Tirza Seene die Fortbildung "Zwischen Schulhof und Kino: Antisemitische Bilder und Motive im Film erkennen", die sich an Pädagog*innen und Lehrer*innen wendet, zusammen mit Dr. Lea Wohl von Haselberg und Lucy Alejandra Pizaña Pérez durch.