Jim Knopf und der weiße rassistische Blick auf Schwarze Menschen und People of Color
Josephine Papke
Die Geschichte um Jim Knopf und Lukas ist nach wie vor bei Kindern wie Erwachsenen sehr beliebt. Mit fast 25 Millionen Euro ist der Film „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ (2018, Fortsetzung 2020) auch einer der teuersten Kinoproduktionen der deutschen Filmgeschichte. Aber welche Bilder werden hier von Schwarzen Menschen und People of Color gezeigt? Ist die heutzutage viel geforderte Repräsentation unserer vielfältigen Gesellschaft erreicht, wenn ein Schwarzer Junge in diesem großen, beliebten Filmprojekt die Hauptrolle spielt? Journalistin, Film- und Theaterwissenschaftlerin Josephine Papke findet, der Film reproduziert rassistische Narrative anstatt Kinder rassismuskritisch zu sensibilisieren.
Die Geschichte ist vielen bekannt: Jim Knopf landet als Waisenkind auf der kleinen Insel Lummerland und wird dort von Frau Waas und weiteren weißen Bewohner*innen aufgezogen. Als Jim 14 ist, begibt er sich mit Lukas, dem Lokomotivführer, auf eine Reise, um herauszufinden, woher er kommt. Dabei passieren die beiden das Kaiserreich Mandala und erfahren, dass die Tochter des Kaisers Li Si entführt wurde. Lukas und Jim reisen nun um die Welt, um Li Si zu befreien.
Filmerzählung aus weißer Perspektive
Die Geschichte nimmt Fahrt auf, als klar wird, dass Jim für die Aufnahme ins weiße Lummerland dankbar sein sollte und seinen Platz dort keinesfalls als gegeben, beständig oder gesichert verstehen darf: „Wir müssen entweder (die Lokomotive) Emma abschaffen oder Jim“, sagt der weiße König im Film. In Lummerland gäbe es nicht genügend Platz für beide. Hier wird ein rassistisches Narrativ von Migration reproduziert. „Aber Jim ist doch nur ein Junge“, entgegnet Lukas dem König. „Ja, aber wie lange noch?“ fragt dieser daraufhin. Die Exotisierung von Schwarzen Kindern als süße Wesen, die Weiße besitzen möchten, ist ein tiefkolonial geprägter Gedanke. Doch sobald die Schwarzen Kinder älter und größer werden, werden sie als Bedrohung angesehen. Das rassistische Bild des bösen Schwarzen Mannes ist seit dem 1915 veröffentlichten Hollywood Hit „Birth of a Nation“ auf der Kinoleinwand präsent, auch heute noch.
Dass ein Schwarzer Junge in einem deutschen Kinofilm die Hauptrolle spielt, ist nach wie vor einmalig. Als Jim fragt: „Wieso bin ich eigentlich Schwarz? Und die anderen nicht?“, antwortet sein Mentor Lukas: „So sind wir nun mal eben gemacht, mein Junge.“ Doch Schwarz und weiß sind keine biologischen Eigenschaften, die homogen aussehende Menschengruppen nach ihrer Hautfarbe beschreiben. Begriffe wie Schwarz, weiß, BIPoC und PoC beschreiben gesellschaftliche Konstruktionen, die soziale Gemeinsamkeiten und Unterschiede schaffen, da Menschen davon entweder profitieren oder diskriminiert werden. Lukas, der Lokomotivführer, ist ein weißer Mann. Weißsein ist in der Wahrnehmung aus weißer Sicht grundsätzlich die Norm und macht sich daher für ihn nie aktiv bemerkbar. Im Film fragt sich Jim durchgehend, woher er kommt, bis er am Ende des Films zu der Erkenntnis kommt, dass Lummerland sein wahres Zuhause ist. Wer seine biologischen Eltern sind, spielt für ihn nun keine Rolle mehr. Am Ende des Films gibt er die Suche nach ihnen und ihrem Herkunftsland auf. Die Frage „Wo kommst du eigentlich her? Also wo kommst du wirklich her, also so richtig?“ ist BIPoC (Black, indigenous, People of Color) in Deutschland nur allzu bekannt: Dass die Filmemacher*innen (und ggf. der Autor der literarischen Vorlage Michael Ende) sich dazu entschieden haben, diese Frage von Jim selbst ständig aufzuwerfen, macht den weißen Blick, durch den der Film konstruiert ist, keineswegs nichtig. Was macht es mit einem Kind, wenn es stets als fremd betitelt wird? Und was macht das mit rassifizierten Kindern, die genau wie weiße Kinder auch, in Deutschland aufwachsen? Was bedeutet für sie zu Hause? In Deutschland wird oft von sogenannter Heimat gesprochen, aber was soll das sein? Wer gilt als deutsch? Und welche Kinder können sich in Deutschland zu Hause fühlen?
Glorifizierte Kolonialfantasien
„Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ strotzt nur so von glorifizierender kolonialer Erzählung. Nachdem Lukas und Jim in Mandala waren, machen sie sich auf den Weg Prinzessin Li Si aus den Fängen böser Drachen zu befreien. Im Kinderbuch hieß Mandala zuerst China, wurde in späteren Auflagen aber durch den Fantasieort Mandala ersetzt. Auf ihrer Mission überqueren Lukas und Jim zahlreiche Ländergrenzen. Der Film markiert ihre Spuren auf immer wieder eingeblendeten Landkarten. An einem Punkt auf ihrer Reise stellt Lukas über Jim fest: „Aus dir wird mal ein richtiger Entdecker.“ Daraufhin antwortet Jim: „Aber ich will lieber mal Lokführer werden, so wie du.“ Lukas entgegnet: „Ein Lokführer folgt nur den Gleisen zu Orten, die Entdecker schon gefunden haben.“ Die sogenannte ,Entdeckung‘ ist kolonial und rassistisch, denn sie markiert den Zeitpunkt, an dem weiße Menschen zum ersten Mal einen Ort betreten und gesehen haben. Dabei existierte dieser Ort bereits lange zuvor, genau wie die nicht-weißen Menschen, die dort lebten. Weiße Menschen legitimieren, dass sie sich den Ort zugänglich machen, indem sie den Raum als leer oder vermeintlich ,unzivilisiert‘ imaginieren. Sie rauben und bemächtigen sich also an dem bereits existierenden Leben und Land dieses Ortes. Die Behauptung, ein Ort würde nun zum ersten Mal entdeckt, dient also nur dem Interesse von Weißen und ist eigentlich eine koloniale, rassistische Gewalttat. Die Kolonialfantasie weißer Menschen kann auch dann nicht vertuscht werden, wenn der Protagonist ein Schwarzer Junge ist.
Das rassistisch sozialisierte Überlegenheitskonstrukt von weißen Deutschen kommt noch in weiteren Szenen zum Vorschein: Der böse Drache Frau Mahlzahn, die zahlreiche Kinder aus verschiedenen Ländern von Entführer*innen kaufte, wird bei der Rettungsaktion im Film von Jim und Lukas besiegt. Aber anstatt sie zu töten, bändigen sie den Drachen und sperren ihn ein. Daraufhin bedankt sich der Drache bei den Beiden und spricht davon, wie schwer es für ihn ist, böse zu sein. Frau Mahlzahn ist dankbar, dass sie besiegt wurde? Die Verbindung zu kolonialrassistischen Vorstellungen können hier nicht außer Acht gelassen werden: Ein weißer Mann rettet mehrheitlich BIPoC Kinder, nachdem er von einem Entdecker-Mythos schwärmt und bevor ihm der besiegte Bösewicht ewige Dankbarkeit verspricht. Koloniale und imperialistische Verbrechen wurden und werden von weißen Menschen mit der Legimitationsausrede entschuldigt, dass sie die angeblich Bösen, Unzivilisierten, Unterwürfigen vor sich selbst und Anderen schützen würden. Diese Reproduktion von kolonialrassistischen Bildern und Machtverhältnissen lässt sich auch an den extrem stereotypisierten Kostümen der Kinder erkennen, die Jim und Lukas vor Frau Mahlzahn retten. Jedes Kind trägt ein Outfit, das eine vermeintliche traditionelle Tracht ihres Landes verbildlichen soll. Als Jim nach der Rettungsaktion einen anderen Schwarzen Jungen fragt, wo er eigentlich herkomme, erwidert der: „Ich komme aus dem Land der Löwen und Elefanten.“ Aber der afrikanische Kontinent ist kein Land und auch keine Musicalvorstellung von König der Löwen.
Anti-Asiatischer Rassismus
Nicht nur Afrika wird in der Verfilmung auf rassistische Stereotype reduziert. Neben Anti-Schwarzem-Rassismus reproduziert „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ auf vielen Ebenen Anti-Asiatischen-Rassismus. Ostasiatisch gelesene Menschen werden bereits durch die Namensgebung ihrer Figuren im Film verspottet. So heißt ein Charakter beispielsweise Pi Pa Po und ein anderer Ping Pong. Dazu wird Anti-Asiatischer-Rassismus stark in der visuellen Darstellung deutlich. Zum Beispiel bei der Figur eines kaiserlichen Bediensteten. Dieser wird von einem ostasiatisch gelesenen Schauspieler verkörpert, der mit gelber Farbe geschminkt ist. Diese Darstellung ist auf die rassistische Ideologie des „Yellow Perils“ zurückzuführen. Der Begriff wurde im 19. Jahrhundert in Europa aus Nordamerika übernommen. „Yellow Peril“, im Deutschen „Gelbe Gefahr“, beschreibt eine rhetorische Figur, die als Legitimation für imperiale, koloniale Ideologie benutzt wurde. Sie galt als Gegenstück zum Narrativ der europäischen Überlegenheit. Um die weiße Deutungshoheit aufrechtzuerhalten, wurden Asiat*innen daher rassistische Charaktereigenschaften wie unterwürfig, ruhig und gehorsam zugeschrieben. Der gelb geschminkte Bedienstete des Kaisers vergleicht sich im Film selbst mit einer Blattlaus und sagt, er sei nur armselig und unwürdig, eine überaus rassistische Entmenschlichung. Als Lukas und Jim in Mandala ankommen, sehen sie eine Gruppe von kleinen Menschen. Lukas erklärt Jim, dass das die Kinder, ihre Kindeskinder und deren Kindeskindeskinder seien und beschreibt sie als „kleine Wunderlichkeit“. Die vermeintliche Unterwürfigkeit von Asiat*innen wird hier ebenfalls symbolisiert, und zwar durch die explizit kleine Größe der Figuren der (Kindes-Kindes)Kinder. Die Skizzierung dieser Menschengruppe zeigt deutlich, wie ostasiatisch gelesene Menschen in der Jim Knopf Verfilmung verniedlicht, verspottet und als vermeintlich unterwürfig erklärt werden.
Repräsentation ist mehr als Casting
Wenn sich ein Schwarzes oder ein Kind of Color in Deutschland auf der großen Kinoleinwand sieht, dann kann das dazu beitragen, dass es sich gesehen fühlt. Für alle Kinder kann die kontinuierliche Besetzung von BIPoC in Filmen Auswirkungen auf ihre Lebensrealität und ihren Umgang miteinander haben. Jedoch ist zu beachten, dass die Besetzung von ein paar BIPoC allein noch keinen unproblematischen oder gar rassismuskritischen Film ausmacht. Viel wichtiger ist dabei, wie das Kind dargestellt wird.
Was nicht bedeutet, dass ein gerechtes und sensibilisiertes Filmcasting nicht wichtig ist. Der Schauspieler Solomon Gordon ist ein Brite. Er verkörpert den im deutschsprachigen Lummerland aufgewachsenen Jim Knopf. Seine deutsche Stimme wurde im Film nachsynchronisiert. Dass Schwarzsein und Deutschsein nicht zusammengedacht wird, ist eine rassistische Praxis. Schwarze Menschen und People of Color werden in Deutschland immer wieder als ,anders‘ und fremd erklärt (geothert), selbst wenn sie in Deutschland geboren und/oder aufgewachsen sind. Das Argument, es gäbe in Deutschland keine Schwarzen Schauspieler*innen, ist schlichtweg falsch. Schwarze Menschen haben diverse Datensammlungen erstellt, die diese rassistische These widerlegen. Im Internet existieren leicht zugängliche Listen, die Schwarze Schauspieler*innen samt Agenturdaten aufführen. Darüber hinaus bestehen reichlich Angebote, die sich explizit auf die Vermittlung Schwarzer Künstler*innen spezialisiert haben. So gibt es beispielsweise die Agentur „Black Universe Agency“ oder die Produktionsfirma „Panthertainment“, um nur zwei zu nennen. Ein repräsentatives Casting eines Films sollte allerdings nur einer von vielen Aspekten sein. Akkurate und antirassistische Repräsentation kann nur dann geschaffen werden, wenn auch das Drehbuch, Regie, Kamera, Kostüm, Make-Up, Montage und viele weitere Gewerke intersektional aufgestellt sind. Nur so kann verhindert werden, dass ein Film Rassismus reproduziert. In „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ hat das nicht stattgefunden.
Und trotzdem gilt der Film häufig als antirassistisches Paradebeispiel. Es braucht also dringend mehr BIPoC in der Filmindustrie. Und bis bessere Gegenformate finanziert werden, muss kritisch mit Erwachsenen und vor allem Kindern über die diskriminierenden Bilder im Film gesprochen werden. Nur so können die nächsten Generationen die strukturellen Machtverhältnisse verstehen und sie nicht weiter reproduzieren, sondern verändern.
Autor*in
Josephine Papke arbeitet vielfältig im Kulturbereich, u.a. als Autorin, Journalistin, Redakteurin, Poetin, Dramaturgin, Performerin. Sie arbeitete bereits am Berliner Ringtheater und am Ballhaus Naunynstraße und schrieb u. a. fürs Missy Magazine, Bildungsstätte Anne Frank, HKW, Brücke Museum, L-Mag, Theatertreffen Blog der Berliner Festspiele, rbbKultur, Literarische Diverse, Neue deutsche Medienmacher*innen, Sisters & Souls 2 uvm.