Merve berichtet über ihren Workshop in der 3. Klasse
Merve Uslu führt als pädagogische Referentin Workshops mit den Konzepten von Film Macht Mut durch. Hier berichtet sie aus ihrer Erfahrung in einer dritten Klasse einer Förderschule in Sachsen-Anhalt.
Ich hatte viele Erwartungen in Bezug auf den Workshop, den ich hier thematisieren möchte. Vor allem ging es mir darum, herauszufinden, inwieweit das Verständnis für verschiedene Rassismen ausgeprägt ist und wie sehr sich dieses Bewusstsein in der Klassendynamik widerspiegelt. Der Workshop fand in Sachsen-Anhalt in der 3. Klasse einer Förderschule statt. Die Klasse bestand mehrheitlich aus weißen, nicht-jüdischen Kindern, erfuhren meine Teamkollegin und ich im Vorgespräch mit der Lehrperson. Somit ging ich davon aus, dass die Schüler*innen noch nicht viele Berührungspunkte zu den Workshopthemen, aber sicher ein großes Interesse hatten.
Durchgeführte Module
Die zentralen Themen des Workshops waren: Film als Kunst mit seinen verschiedenen Gestaltungsmitteln, Intersektionalität und Formen von Rassismus, Identitätsfindung, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sowie Ängste und Gefühle. Da der Workshop insgesamt vier Tage lang ging, war es möglich zu sehen, wie einmal Gelerntes auch Anwendung fand.
Die ersten Module, die wir durchführten, waren der „Einführungstag Intersektionalität“ der 5.&6. und das Modul „Was ist Rassismus?“ der 3.&4. Klasse. Beide Module wurden von der Lehrperson in Kombination gewünscht. Wir kamen diesem Anliegen entgegen, indem wir mit der Methodik der 3.&4. Klasse starteten, aber mit Begriffen und Inhalten des Moduls Einführungstag Intersektionalität der 5.&6. Klasse kombinierten. Da mir aus bisheriger Erfahrung bekannt war, dass der Begriff Intersektionalität [Verwobenheit von Diskriminierungsformen, z.B. von Rassismus, Sexismus und Klassismus betroffen und able-bodied zu sein] für 3. Klässler*innen schwierig zu begreifen ist, wurde das Konzept durch die angewandte Methodik klar, ohne dass wir den Begriff verwendeten. Größtenteils war der Begriff Mobbing bekannt, mit dem wir uns auch den Einstieg verschafften. Erst am dritten Tag erstellten wir eine Mindmap der wichtigen Begrifflichkeiten und eigener Erklärungen der Schüler*innen auf der Tafel. Tag für Tag füllte sich diese Zusammenstellung in eigener Initiative der Kinder.
Spielerischer Einstieg zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden
Methodisch starteten wir mit der theaterpädagogischen Übung Alle, die… . Dafür bildeten wir einen Kreis und suchten gezielt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Schüler*innen in ihren Hobbys und Vorlieben. Schüler*innen warfen dann einen Satz in den Raum, und alle, auf die der Satz zutraf, wechselten ihren Sitzplatz. Es wurde deutlich, wie wichtig es für die Klasse war, gezielt nach Gemeinsamkeiten zu suchen, um ihre Klassenkamerad*innen anzusprechen, und damit es in den Worten der Schüler*innen auch „mehr Spaß machte“. Da das Spiel so positiv verlief, führten wir noch ein ähnliches Spiel durch. Das Anders-Applaus-Spiel, welches den Schüler*innen die Möglichkeit gab, sich in vielen weiteren Kontexten kennenzulernen. Wichtig war hierbei der Hinweis, Vorlieben anderer unkommentiert und unbewertet zu lassen. Die meisten Schüler*innen nahmen dies an und wiesen andere darauf hin, Gelächter oder Kommentare sein zu lassen. Wir als Teamenden hielten uns hier bewusst zurück, um die Klassendynamik zu beobachten.
Um die Methodik zum Thema Gemeinsamkeiten, Unterschiede und deren Akzeptanz oder Bewertung abzurunden, eröffneten wir im Anschluss die Diskussion mit der Frage: „Wisst ihr, welche Menschen von Diskriminierung betroffen sein könnten?“ Auf Anhieb fiel es den Schüler*innen schwer, Formen von Diskriminierung zu benennen. Mit Hilfestellungen kamen Rückmeldungen, wie bspw. „Kinder, die aus einem anderen Land kommen“. Die in den Filmen thematisierten Rassismen konnte nach längeren Gesprächen rekonstruiert werden. Bspw. wurde im Film Chicken (Alana Hicks, 2020) sehr vorsichtig der Anti-Schwarze Rassismus genannt. Für uns war wichtig, den Schüler*innen sicherzustellen, dass keine Meinung falsch ist. Jede*r darf in diesem Raum die eigene Meinung teilen, solange es keine andere Person verletzt. Dies war der Konsens, mit dem wir uns weiterbewegten, nachdem die Unsicherheiten in Bezug auf das Themengebiet besprochen wurden.
Filmbildung als Schlüssel
In den Film Dancing Abdullah (Marco Giacopuzzi, 2021) führten wir ein, indem die Filmgattung Dokumentarfilm mithilfe von Filmstills aus unterschiedlichen Filmen besprochen wurde. Bspw. der Vergleich zwischen Spielfilmen, Animationsfilmen, experimentellen Filmen und dokumentarischen Werken. Nachdem die Schüler*innen herausgefunden hatten, dass die Figuren eines Dokumentarfilms keine Schauspieler*innen sind, sondern Personen aus dem Alltag, die ihre Geschichte erzählen, kamen Rückmeldungen wie „Ich will auch einen Dokumentarfilm drehen!“ und „Dann habe ich mit dem Handy auch schonmal einen Film gedreht“. Bei vereinzelten Schüler*innen sahen wir eine große Kreativität und ein Interesse am Filmschaffen. Der Film war ein Schlüsselmittel, welches wir benötigten, um nicht nur Filmtechniken kennenzulernen, sondern auch den komplexen Begriff der Intersektionalität anschaulich zu machen. Inhaltlich gelangten die Schüler*innen dadurch auch zu einer Einordnung. Sie bewerteten den Rassismus, von dem Abdullah im Film erzählt, als negativ und nicht akzeptabel.
Zudem waren die Schüler*innen nach der zweiten Sichtung in der Lage, die Traurigkeit und traumatischen Erfahrungen von Abdullah aufgrund seiner Fluchterfahrung nachzuempfinden. Dies war wichtig, damit die Schüler*innen im Nachgang selbst den Rassismus erkennen und deuten konnten und ihr Bewusstsein für die Auswirkungen von Vorurteilen gestärkt wurde. Ich merkte einen sehr klaren Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Sichtung. Während es in der ersten vereinzelt Gelächter (mehrheitlich in den Tanzszenen) und Kommentare gab, wurde der Film in der zweiten Sichtung viel ernster genommen und es wurden dementsprechend Gefühle zugelassen. In diesem Zusammenhang erachteten wir es als wichtig, öfters einen Gefühls-Check-In durchzuführen mithilfe der Emoji-Karten, die wir im Klassenraum für die ganze Woche verteilten. Dies haben die Kinder gebraucht, da gelegentlich eine allgemeine Unruhe und Flüstern herrschte, gerade wenn es um Formen von Rassismus und der eigenen Auseinandersetzung damit ging. Eine gewisse Grundunruhe war immer da, auf die wir uns aber in der Förderklasse einstellten und schnell damit umgehen konnten. Wir nutzen mehr interaktive Methoden, planten aktive Pausen ein und fingen die Konzentration wieder durch abwechselnde Materialien oder konkrete Beispiele auf.
Reaktionen der Schüler*innen
Die Schüler*innen reagierten besonders positiv auf theaterpädagogische Methoden. In einer Methode wurden Standbilder und Szenen aus dem Film Chicken nachgestellt. Hierbei habe ich gemerkt, wie viel Mühe die Schüler*innen in diese Aufgabe investierten. Für die Aufführung hatten wir auch ein paar Requisiten dabei: einen roten Teppich, eine Softbox als Rampenlicht und eine Filmklappe – eine perfekte filmische Atmosphäre.
Daran gemessen, dass die Kinder wenig bis keine Vorkenntnisse in den Themenbereichen hatten, war der Workshop erfolgreich. Gesellschaftliche Rollen zu hinterfragen, fiel den Schüler*innen sehr schwer. Trotzdem konnte aufgrund der Filmsichtungen eine Grundsensibilisierung geschaffen werden, da immer wieder von den Schüler*innen eigenständig Bezug auf die bereits gesichteten Filme genommen werden konnte. Das war für mich persönlich auch eine der erfolgreichsten Erfahrungen in der Workshopwoche. Darüber hinaus hatte ich den Eindruck, dass vor allem durch die theaterpädagogischen Aufgaben, wie der Nachstellung einer von Rassismus geprägten Szene, aber auch konkrete Szenenanalysen ein Gerechtigkeitssinn aufkam.
In vielen Feedbackbriefen schrieben die Schüler*innen, dass sie nun wissen, warum alle Menschen gleichbehandelt werden sollten und dass sie sich selbst immer hinterfragen müssen. Eine Rückmeldung eines Schülers nach der Filmsichtung blieb mir vor allem im Gedächtnis: „Zusammen können wir viel voneinander lernen und die Schule ist doch auch zum Lernen da.“ Dieser Satz war eine sehr wichtige Schlussfolgerung für den Zusammenhalt der Schüler*innen.
Umgang mit herausfordernden Situationen
Während des Workshops kam es zu einer unerwarteten Situation, die ich ansprechen möchte. Als wir uns in einer stillen Bearbeitungsphase des Arbeitsblattes Identitätsblumen befanden, in dem die Schüler*innen u.a. den Ort, an dem sie sich zuhause fühlen, in die abgebildeten Blütenblätter schrieben, ging ich zu einer Schülerin. Sie hatte sich gemeldet. „Ich weiß nicht, wo ich mich zuhause fühle“, sagte sie. Daraufhin schlug ich ihr ein paar Beispiele vor und betonte, dass das auch Personen sein können, bei denen sie sich wohlfühlt: „Deine Familie oder deine Freunde kannst du auch aufschreiben“, sagte ich. Sie antwortete, dass sie im Heim lebe und keine Familie habe. Aber einen Hund haben sie im Kinderheim, den könne sie doch aufschreiben. Ich ärgerte mich sofort darüber, dass meine Haltung viel sensibler hätte sein müssen. Ich bin davon ausgegangen, dass jedes Kind, welches vor mir steht, eine Familie hat. Das war nicht richtig und beschäftigte mich noch eine lange Zeit nach dem Workshop. Wie hätte ich reagieren sollen? Wie kann ich am besten mein Mitgefühl zeigen, ohne dass es dem Kind zu nahe tritt oder sich das Kind komisch fühlen lässt?
Eine weitere Herausforderung war die gelegentlich übermäßige Stille und Zurückhaltung der Schüler*innen in Diskussionen. Diese Herausforderung meisterten wir in den darauffolgenden Tagen, indem wir offenere Fragen stellten, wodurch das Interesse eher geweckt werden konnte. Das ist mit Sicherheit wichtig für die Workshopkonzepte, da nicht immer davon ausgegangen werden kann, dass alle Schüler*innen mitmachen. Natürlich ist es erfreulich, wenn sich einzelne viel einbringen. Trotzdem sollte es immer ein Ziel sein alle Schüler*innen mitzunehmen.
Zudem legten wir viel Wert auf Ermutigung sich auszudrücken, indem wir Raum gaben, um offene Fragen, Einwände oder Gefühle individuell auf Notizzettel zu schreiben. In anonymer Weise wurden diese Zettel dann besprochen. Ich denke, dass durch diese Methodik u.a. diese Auswirkung sichtbar wurde: Im Laufe der Woche merkten wir, dass vereinzelte Schüler*innen, die vorher eher in den Hintergrund traten (oder mit ihrer Haltung symbolisierten, dass sie nicht mitmachen wollten), sich öffnen konnten, Gefühle zuließen, aktiv wurden und wichtige Statements setzen konnten.
Persönliche Rückmeldung
Besonders beeindruckend war für mich die Bereitschaft der Schüler*innen zum aktiven Handeln. Sie äußerten mehrfach den Wunsch, gegen Rassismus vorzugehen, indem sie bspw. mit Menschen reden wollen, die Rassismus erfahren. Den Willen zur direkten Interaktion erachteten wir als wichtig, um das Verständnis zu vertiefen, Empathie zu entwickeln, Vorurteile abzubauen und vor allem eine soziale Verantwortung zu entwickeln. Natürlich wiesen wir als Teamende aber darauf hin, dass diese Art von aktiver Handlung viel Sensibilität erfordert. Einfühlsam zuhören und respektvolle Fragen stellen, da die Themen emotional aufgeladen sein können. Das Ziel sollte darin bestehen, zu handeln und zu sprechen, ohne Betroffene zu verletzen.
Mir war es sehr wichtig, genug Zeit für das Feedback der Schüler*innen einzuplanen, da dies meist durch zeitliche Engpässe zu kurz kommt. Wir gaben uns allen die Zeit, auf Gefühle und Gedanken einzugehen. So äußerte sich u.a. auch der Wunsch für die Zukunft über aktuelle Ereignisse in der Klasse und der Welt zu sprechen und zu schauen, wie die Klasse damit umgehen könnte. Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich anderen pädagogischen Referent*innen mitgeben wollen würde, ist, sich ganz auf die Klasse einzulassen. Die Modulvorgaben sind eine Richtung, ein Werkzeug, jedoch kein festgelegter Pfad, der Kreativität und Entfaltung begrenzt. Ich finde es viel wichtiger, die Bedürfnisse der Klasse aufzufangen, um diese zu bewältigen, indem wir ALLE immer selbstreflektiert bleiben. Wie ein offenes Buch, immer weiterlernen, es weiterschreiben und weiter entfalten.
Autorin
Merve Uslu studiert derzeit im Master Filmkultur und ist studentische Hilfskraft im Technomuseum in Mannheim.
Als pädagogische Referentin führt sie bei Film Macht Mut die Workshops mit den Konzepten von Film Macht Mut durch.